Gewerbeverein Mutterstadt Entwicklung des örtlichen Gewerbes seit Gründung bis heute

Zur Gründungszeit des Mutterstadter Gewerbevereins, Anfang des vorigen Jahrhunderts, hatte das örtliche Gewerbe bereits eine wichtige Aufgabe in der Versorgung der Bevölkerung. Es waren viele kleine, meist familiär geprägte Betriebe, die in die Regeln ihrer Stände, bei Handwerkern ihrer Zünfte, eingebunden waren. Viele kleine Handwerksbetriebe, die nach überlieferter Handwerkskunst ihre konkret definierten Leistungen anboten, überwiegend in Handarbeit. Zunehmend auch ansässige und fahrende Händler mit jeweils sehr spezifischem Angebot. Dienstleistungen spielten noch eine untergeordnete Rolle.

Großbetriebe fanden sich nur in der aufkommenden Industrie, boten bereits willkommene Arbeitsplätze und Einkommen, spielten in der örtlichen Versorgung aber noch keine aktive Rolle.

Diese Strukturen fanden sich nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst wieder. Ich wurde 1954 geboren und erinnere mich noch an viele Handwerker, die den Krieg überstanden oder sich neu niedergelassen hatten. Darunter auch mit Angeboten, die heute kaum noch eine Rolle spielen, wie z.B. Schmiede. Die Lebensmittelversorgung lag in den Händen vieler kleiner Geschäfte, sog. Kolonialwarenhändler. Ebenso jeweils etwa 10 Metzger und Bäcker in einem Mutterstadt, das gerade Mal halb so groß war wie heute. Feierabende verbrachte man damals in einer der vielen Gastwirtschaften, ich erinnere mich an sage und schreibe 28 Stück, darunter 5 Stück mit Tanzsälen, in denen bei Volksfesten, an Fasnacht usw. immer mords was los war.

Erste genossenschaftlich getragene Handelsbetriebe kamen auf, die in ihren Filialen ein breiterer werdendes Angebot an Waren des täglichen Bedarfs feilboten. Die zunehmende Motorisierung brachte Fachbetriebe für Zweiräder und Autos. Der Wiederaufbau lag in den erfahrenen Händen mehrerer mittelständischer Bauunternehmen und sich stetig entwickelnder Betriebe des Ausbaugewerbes, indem der Anspruch an Installationen und Gebäudetechnik stetig zunahm.

Der Trend zu immer größeren, breiter aufgestellten Anbietern machte natürlich vor Mutterstadt keinen Halt. Bäcker und Metzger erweiterten ihr Angebot durch artverwandte Produkte, und mit Herrn Knappes „SB-Lager“ erhielten wir den Vorläufer der heutigen Discounter, aus dem sich zunächst die Esbella-Märkte und daraus die heutigen Real-Märkte entwickelten.

Der Segen, an einem Ort möglichst viele Artikel zu günstigen Preisen kaufen zu können, war aber gleichzeitig auch der Fluch für die kleinen Geschäfte, deren Umsätze sukzessive bis zur Unwirtschaftlichkeit einbrachen. Auch viele Bäcker und Metzger mussten erkennen, dass trotz Qualität und Fleiß mit nur einem Laden im Wohnhaus nicht mehr zu leben ist.

Aber es gibt heute immer noch Betriebe am Ort, die sich durch ihre Anpassung an die sich ändernden Anforderungen eine wirtschaftliche Basis geschaffen haben, auf die sie Aufbauen und sich entwickeln können. Qualität, Flexibilität und bedachte Expansion sind überlebenswichtige Kriterien. Sich nur im Spektrum hergebrachter Berufsbilder zu bewegen ist nicht mehr gefragt. Das klassische Handwerk gibt es zwar immer noch, jedoch fordert es den Einsatz zeitgemäßer Technologien und zu deren Amortisation stetig steigender Umsätze.

Die heutige Wirtschaft lässt sich nicht mehr in die klassischen Schemen Handwerk, Handel und Dienstleistung einordnen. Allein das Handwerk muss heute Grenzen zu benachbarten Gewerken überschreiten, die früher undenkbar waren. So funktioniert die heutige Haustechnik nicht mehr ohne Elektro- und Prozessortechnik, und der sie erstellende Handwerksbetrieb ist ebenso Händler für ergänzende Produkte als auch Dienstleister für Planung und Service. Die Grenzen der Baugewerke verschwimmen. So ist der Malerbetrieb oft auch Innenausstatter, Trockenbauer, Gipser und Fliesenleger, der Tischler auch Spezialist für Fenster und Türen in Kunststoff und Alu. Und der frühere Automechaniker nennt sich heute Mechatroniker und geht auch mal mit Handschuhen und Laptop in die Werkstatt, bevor sich Kollegen um die Wagenpflege und das Zubehör kümmern.

Geänderte Ansprüche an die Freizeitgestaltung haben die meisten Dorfwirtschaften sterben lassen, was ich als Verlust an Geselligkeit und sozialer Kommunikation sehr bedauere. Hier sind uns benachbarte Regionen noch um einiges voraus.

Dennoch dürfen wir dem Mutterstadter Gewerbe nach einer positiven Bestandsaufnahme eine gute Prognose für die Zukunft ausstellen. Etliche Betriebe des Einzelhandels sind der Abwanderung von Kunden durch Qualität, Kompetenz, Freundlichkeit und Service entgegen getreten und präsentieren ein Preis-/Leistungsverhältnis, das bei näherer Betrachtung sich nicht hinter den Großmärkten verstecken muss. Man sollte sich als mündiger Verbraucher nicht von bunten Prospekten der Großmarktketten in die Irre führen lassen. Unser Ort ist immer noch geprägt von mittelständigen Händlern, die dort ihren Platz gefunden haben und in Ehren verteidigen. Unsere Betriebe der Gebäude- und Fahrzeugtechnik sind zuverlässige Partner sowohl in der Pflege des Bestands als auch in dessen Erneuerung. Unsere Gastronomen haben sich auf ihre jeweilige Kundschaft vortrefflich eingestellt und bieten eine weithin anerkannte Qualität. Gerade im Gewerbegebiet finden sich mittlerweile Geschäfte mit internationaler Reputation. Spezialisten stellen sich erfolgreich gegen den Trend und bedienen ihre Stammkunden. Und einen immer breiteren Raum füllen Dienstleister der Gesundheits- und Daseinsfürsorge sowie Anbieter juristischer und wirtschaftlicher Beratung aus, wobei in diesem Zusammenhang der Begriff Gewerbe durchaus auch auf die freiberuflichen Tätigkeiten erweitert gesehen werden darf.

Mit Fug und Recht darf ich sagen, dass Mutterstadt auf seine Unternehmer stolz sein kann. Sie sind gerüstet, ihre Kundschaft von Nah und Fern vortrefflich zu bedienen. Es liegt allein an uns, den Verbrauchern, ob wir diese Angebote annehmen und damit auch den Bestand sichern, oder ob wir vermeintlichen Schnäppchen hinterher laufen. Wir alle, die Kunden, haben die Entwicklung selbst in der Hand.

Text:
Volker W. Reimer
Vorsitzender des Gewerbevereins Mutterstadt